Zu zählen – das Verfehlen. Freilich kann hier nicht jeder zu kritisierende Fall von falschem polizeilichen Verhalten dokumentiert werden. Immerhin befindet sich die Autor*innenschaft in Sachsen, wer hat Zeit für sowas! Andrerseits, hey Material für die jahrelange Produktion von Content. Also los.

MDR Aktuell berichtete am 02.06. von einem Zwischenfall bei der durch Jule Nagel angemeldeten Demo zum Kindertag, 01.06., „Tag der Jugend“. Hierbei war die Landtagsabgeordnete brutal abgeführt worden, nachdem sie geschubst und ihre Selbstidentifikation als Versammlungsanmelderin und Landtagsabgeordnete schlicht ignoriert wurde.
In einem Video ist die Abführung zu sehen. Hierbei wird eine eher schmale Person, deren Arme verdreht und fixiert werden und die dabei keinerlei Widerstand leistet von zwei Robocops flankiert zu einem Sixpack gezerrt, dabei jene sie völlig unverhälnismäßig an Hals und Kopf halten (Polizeigriff). Für die beteiligten Bullen bestand dabei zu keiner Zeit Gefahr. Eine Traube anderer Vollgepanzerter folgte und versuchte die Szene vor der filmenden Person (und andern) abzuschirmen. Welche Wertschätzung der Presse gegenüber von Polizeiseite zukommt, ist hierbei unschön illustriert.
Das ist unbestreitbar geschehen. Auf Video aufgenommen. Doch was soll es. Jule wird vorgeworfen, sie habe sich der „Störung einer Amtshandlung schuldig gemacht“ und zudem einen „tätlichen Angriff auf Polizeibeamte“ verübt. Man mache sich klar wie lächerlich dies Szenario ist: Eine Landtagsabgeordnete geht allein und als lokale politische Prominente unvermummt und gut erkennbar gewalttätig auf Polizeibeamte in Riot-Gear los (die nie isoliert in Demo-Situationen sind). Aber irgendein sächsischer Richter wird es ohne Zweifel glauben. Die glauben alles, was Bullen ihnen erzählen.
Diese sehr ernste Ermittlung wurde dann auch sogleich an das LKA weitergegeben, das daraufhin ermittelte, so der MDR. Weil nun diese gefährliche linksradikale Terroristin all diese undenkbaren, bitterbösen Dinge getan habe, hat am Folgetag sie auch gleich Besuch vom Leipziger Polizeipräsident René Demmler erhalten, Sachsens Innenminister Armin Schuster (CDU) kam auch zu dem Treffen. Der MDR zitiert die Darstellung des Gespräches durch die Polizei:
„Es habe eine „sachliche und zugleich kritische Auseinandersetzung mit dem Polizeieinsatz und dem Versammlungsgeschehen“ gegeben. Demmler bat den Angaben zufolge um Entschuldigung für Äußerungen von Polizeibeamten. Sollte tatsächlich ein Beamter erklärt haben, Nagels Abgeordnetenstatus sei ihm egal, dann sei die Kommunikation „weder professionell noch in der Sache angemessen“. Gleichwohl müsse die Polizei bei Verstößen gegen Normen einschreiten“. Danach hätten beide zur Deeskalation aufgerufen.
Wie ist das zu verstehen? Die Polizei eskaliert und bittet dann in den Reaktionen um Deeskalation? Inwiefern ist es angemessen, dass eine Reaktion äquivalent der Aktion, die ihr vorausging, ist?
Wem will die für Eskalation zuständige Gewalt das erzählen? Die Führung der sächsischen Linken spricht von einem „unglaublicher Vorgang“ und deutete mind. an, dass evtl. die parlamentarische Immunität von Nagel verletzt worden sein könnte. Der „SPD-Innenpolitiker Albrecht Pallas [bezeichnete] die Videobilder auf Twitter als „sehr irritierend“. Er kündigte eine „Nachbetrachtung im Innenausschuss“ an“. Auch „ Grünen-Innenexperte Valentin Lippmann erklärte […] ein solches Vorgehen gegen eine Versammlungsleiterin, die zugleich Landtagsabgeordnete ist, sei „indiskutabel“. Die Linken-Landtagsabgeordnete Kerstin Köditz sprach von einer womöglich gewollten Eskalation der Polizei und Polizeiführung bei der Demo am Donnerstag […]“.
Und an der Stelle ist dieses keine Spekulation mehr. Es geht hierbei nicht mal darum, dass die gesamte Polizei in einer eskalierenden Weise handeln würde (obschon sie dies tut). Es reicht, wenn es einzelne Cops sind und alle andern das decken. Und nicht intervenieren, weil sie wissen, dass ihnen nichts passieren kann – und wenn sie ihr Maul halten, einmal auch für sie gelogen werden wird -, wenn sie die Abgeordnete nicht gerade direkt exekutieren, alles drunter: Freifahrtsschein.
Denn mensch mache sich nichts vor, das Ganze ging so „glimpflich“ aus, weil Jule Nagel Abgeordnete des Landtags ist und gute Anwälte auf Kurzwahl und an ihrer Person interessierte Medienpersonen um sich hat. Alle die das nicht haben, dürften sich in jenem Fall auf den Strafbefehl freuen, der sie ohne jeden Zweifel wegen ihrer „tätlichen Attacke“ erreichen wird und wahlweise teuer wird, oder eben auch mal ein bisschen das Leben ruinieren kann. Nur weil konkrete Kritik an der Polizei unweigerlich von einer Gegenbeschuldigung durch Beamte gekontert wird, die sich plötzlich körperlich angegriffen sieht, im Wissen, dass jedes sächsische Gericht das glaubt und abnickt. Das ist weithin bekannt, freilich wird es nicht als problematisch angesehen. Denn der Mythos der guten Polizei und ihrer Fehlerlosigkeit muss um jeden Preis aufrechterhalten werden.
Jule Nagel hatte, so berichtet der Medienmensch welcher auch das Video aufnahm, Grund für ihre verbale Interaktion mit der Polizei, seien doch „POC[s] […] hart Handschellen wegen mutmaßlicher Beleidigung angelegt [worden]. Als [Jule] moderat interveniert, wird sie erst dumm angemacht, dann hart abgeführt. Dass die Beamten es mit einer MdL zu tun haben wissen sie“. Und die Behauptung zum Vorliegen einer Beleidigung, nun, das ist freilich genug Anlass mehrere Menschen mit Gewalt zu begegnen. Völlig angemessen das alles. Nicht wahr?
Nein! Ist es nicht.

Quelle: https://www.mdr.de/nachrichten/sachsen/leipzig/polizeigewahrsam-juliane-nagel-demo-100.html